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NEUES VOM EuGH ZUM URLAUBSRECHT

Europäischer Gerichtshof, Urteile vom 22. September 2022 – C-518/20, C-727/20, C-120/21

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 22. September 2022 drei Urteile gefällt, die sämtlich auf Vorlagen durch das deutsche Bundesarbeitsgericht (BAG) ergingen und die sich mit der Frage befassen, wie lange ein Arbeitnehmer Urlaubsansprüche geltend machen kann.

In dem Urteil C-120/21 hat der EuGH entschieden, dass Urlaubsansprüche nicht verjähren können, wenn der Arbeitgeber seiner Hinweispflicht zum Urlaub nicht nachgekommen ist. Danach muss ein Arbeitgeber den Arbeitnehmer auffordern, seinen Urlaub zu nehmen, und auf den Verfall des Urlaubs für den Fall hinweisen, dass er nicht genommen wird, obwohl er hätte genommen werden können.

In den beiden anderen Urteilen hat der EuGH entschieden, dass auch die 15-Monats-Frist nicht greift, wenn der Arbeitgeber seiner eben genannten Hinweispflicht zum Urlaub nicht nachgekommen ist. Nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH und des Bundesarbeitsgerichts verfallen Urlaubsansprüche am 31. März des übernächsten Jahres, also 15 Monate nach dem Ende des betreffenden Urlaubsjahres, wenn ein Arbeitnehmer wegen Langzeiterkrankung den Urlaub nicht nehmen kann.

Wichtig für das Verständnis der Entscheidungen des EuGH ist aber, dass es in allen 3 entschiedenen Fällen um Sachverhalte ging, in denen die Arbeitnehmer in den maßgeblichen Urlaubsjahren teilweise noch gearbeitet haben und deshalb – zumindest theoretisch – den ausstehenden Urlaub noch hätten nehmen können. Deshalb hat der EuGH entscheiden, dass die zeitlichen Begrenzungen der Verjährung und der 15-Monats-Frist dem Arbeitgeber nicht zu Gute kommen, wenn er seiner Hinweispflicht nicht nachgekommen ist.

In den beiden Entscheidungen C-518/20 und C-727/20 hat der EuGH aber ausdrücklich die 15-Monats-Frist für den Fall einer Langzeiterkrankung eines Arbeitnehmers aufrechterhalten, wenn wegen der Langzeiterkrankung der Urlaub nicht genommen werden kann. In diesem Fall soll der Arbeitgeber vor einer Anhäufung von immensen Urlaubsansprüchen geschützt werden.

Die Entscheidungen erlangen aber in den Fällen Bedeutung, in denen ein zunächst langzeitkranker Arbeitnehmer im laufenden Kalenderjahr unvorgesehen wieder gesund wird und arbeiten kann. Wenn dann kein Hinweis des Arbeitgebers erfolgt ist, bleibt dieser nicht genommene Urlaub zeitlich unbeschränkt bestehen.

Fazit: Auch wenn die Entscheidungen des EuGH nicht so dramatisch sind, wie sie in der Berichterstattung teilweise dargestellt wurden, so empfiehlt es sich für den Arbeitgeber dennoch, seiner Hinweispflicht in nachvollziehbarer und dokumentierter Weise und insbesondere auch gegenüber kranken Arbeitnehmern nachzukommen.

MANCHMAL KOMMT ES ANDERS ALS MAN DENKT!

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 13. September 2022 – 1 ABR 22/21

Das BAG hatte über eine Rechtsbeschwerde eines Unternehmens zu entscheiden, bei der es nach Meinung aller außenstehenden Beobachter um die Rechtsfrage ging, ob ein Betriebsrat im Rahmen der Mitbestimmung bei technischen Einrichtungen, z.B. zur Arbeitszeiterfassung, ein eigenes aktives Initiativrecht, und nicht nur ein reaktives Mitbestimmungsrecht hat. Herausgekommen ist zur Verwunderung aller ein Beschluss zu einer ganz anderen Frage und mit einem durchaus sehr überraschenden Ergebnis.

Das BAG hat sich zu der Frage geäußert, ob Arbeitgeber nach der deutschen Rechtslage zur systematischen Erfassung der Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer verpflichtet sind. Diese Frage war durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2019 virulent geworden, das festgestellt hatte, dass nach einer europäischen Richtlinie die Arbeitgeber zu einer solchen systematischen Erfassung verpflichtet sind. Seither gab es eine lebhafte politische und juristische Diskussion zu den Auswirkungen dieses EuGH-Urteils in Deutschland, wobei die meisten Stimmen davon ausgingen, dass es eines neuen Gesetzes bedarf.

Das sieht das BAG allerdings anders. Es legt eine Vorschrift des Arbeitsschutzgesetzes unter Berücksichtigung des EuGH-Urteils unionsrechtskonform dahingehend aus, dass bereits heute eine Verpflichtung für deutsche Arbeitgeber zur systematischen Erfassung der Arbeitszeit besteht.

Unbedeutende Notiz am Rande: die Rechtsbeschwerde des Unternehmens war erfolgreich, da es ein Initiativrecht des Betriebsrats in diesem Bereich nicht gebe, da ja bereits eine gesetzliche Verpflichtung zur Zeiterfassung bestehe.

Damit hat das BAG alle bisherigen rechtlichen Meinungen und auch die politische Diskussion über die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung auf den Kopf gestellt. Wie die Unternehmen diese vom BAG neu gefundene Verpflichtung zu erfüllen haben, hatte das BAG nicht zu entscheiden, sondern konnte die betroffenen Unternehmen und auch den Gesetzgeber mit dieser spannenden Frage allein lassen.

Manchmal kommt es eben auch vor dem BAG anders als man denkt!

EuGH, Urteil vom 14. Mai 2019 – C-55/18

In Deutschland gibt es für Unternehmen, die nicht unter einen Tarifvertrag fallen oder keinen Betriebsrat haben, (außer für geringfügig Beschäftigte) keine gesetzliche Pflicht zur Aufzeichnung der regulären Arbeitszeiten der Mitarbeiter. Lediglich die Überstunden müssen nach § 16 Abs. 2 ArbZG aufgezeichnet werden.

Der Europäische Gerichtshof hat nun in einem Fall aus Spanien mit Urteil vom 14. Mai 2019 entschieden, dass die Mitgliedsstaaten der EU die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem auch die von jedem Arbeitnehmer geleistete reguläre tägliche Arbeitszeit aufgezeichnet bzw. nachvollzogen werden kann. Nur so kann nach Auffassung des EuGH das im EU-Recht als Grundrecht ausgestaltete Recht der Arbeitnehmer auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf Einhaltung von täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten gewähreistet werden. Eine Regelung wie in Deutschland, dass nur die Überstunden aufgezeichnet werden müssen, hat der EuGH als nicht ausreichend angesehen.

Der EuGH hat dem Gesetzgeber der Mitgliedsstaaten immerhin einen gewissen Spielraum zur Ausgestaltung solcher gesetzlicher Regeln eingeräumt, z.B. in Bezug auf die Größe eines Unternehmens oder auf die Art der Tätigkeit. Es bleibt abzuwarten, wie der deutsche Gesetzgeber unter Ausnutzung dieses Spielraums besondere Situationen wie bei der Vertrauensarbeitszeit, Arbeit im Home Office oder Arbeit von Außendienstmitarbeitern behandeln wird. Eine Pflicht zum Tätigwerden ist aber – entgegen der Ansicht von Bundeswirtschaftsminister Altmeier – ohne Zweifel gegeben.

Bis zur Einführung einer gesetzlichen Regelung sind aber nach dem Urteil des EuGH auch die Gerichte gefordert. Sie müssen ab sofort prüfen, ob nicht die bestehenden einzelstaatlichen Gesetze bis zum Vorliegen einer gesetzlichen Neuregelung im Wege der europarechtskonformen Auslegung angepasst werden können.

Es wird interessant sein zu beobachten, ob, wie und vor allem wann der Gesetzgeber in der momentanen politischen Situation zu einer Neuregelung kommen wird, und inwieweit die Gerichte dem Gesetzgeber in ihrer Rechtsprechung vorgreifen werden.